Drei Tage nach der vorgezogenen Parlamentswahl hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach langem Warten erstmals das Ergebnis kommentiert. „Niemand hat sie gewonnen“, betonte er in einem am Mittwoch veröffentlichten Brief an die Französinnen und Franzosen.
Eine absolute Mehrheit hätten allenfalls die „republikanischen Kräfte“. Das Wahlergebnis lasse einen „klaren Willen nach Veränderung und mehr Teilhabe an der Macht“ erkennen, sagte er. Mit dem Schreiben hat Macron zwar keine klaren Hinweise gegeben, aber indirekt dem Linksbündnis eine Absage erteilt. Das Linksbündnis hatte als größtes Lager den Anspruch erhoben, einen Kandidaten zu benennen – ohne sich bislang auf einen Namen geeinigt zu haben.
Der Präsident, der über eine neue Regierung entscheiden muss, spielt auf Zeit. Seinen Premierminister hält Macron trotz des Rücktritts von Gabriel Attal am Montag bis auf weiteres im Amt. Beobachter halten es für unwahrscheinlich, dass Frankreich noch vor Ende der Olympischen Spiele im August eine neue Regierung bekommt.
Die neue Nationalversammlung, die am 18. Juli erstmals zusammentritt, wird von drei vergleichbar großen politischen Lagern dominiert. Das Linksbündnis „Neue Volksfront“ (NFP) verfügt über 182 Sitze, die Präsidentenallianz über 168 und der rechtsnationale Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen über 143. Ohne Stimmen aus den gegnerischen politischen Lagern kann in den nächsten Monaten keine Partei Gesetze beschließen. Erfahrungen mit lagerübergreifenden Koalitionen hat Frankreich bislang aber nicht. Politisches Neuland für alle Beteiligten. Vor allem der überraschende Wahlsieger, das neue Linksbündnis, muss sich sortieren und entscheiden, wen das Bündnis dem Staatspräsidenten als neuen Regierungschef vorschlägt.
Jean-Luc Mélenchon – das rote Tuch
Der 72-jährige Linkspopulist war der erste, der am Wahlabend nach der Macht griff. Nur wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale trat Mélenchon vor seine Anhänger und forderte den Präsidenten auf, einen Premierminister aus den Reihen des Linksbündnisses zu ernennen. Dass er dieses Amt am liebsten selbst übernehmen würde, hat der für seine autoritären Führungsmethoden gefürchtete Mélenchon mehrfach öffentlich erklärt. Außerhalb seiner Partei gilt Mélenchon indes als „rotes Tuch“. Der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel empfahl er einmal, „die Klappe zu halten und sich um die Armut und die zerstörten Städte“ im eigenen Land zu kümmern.
Welche Rolle der mehrfache Präsidentschaftskandidat in den kommenden Jahren spielen wird, scheint derzeit unklar. Der Gründer der radikalen Linkspartei Unbeugsames Frankreich (La France insoumise, LFI) hat sich weder um ein Abgeordnetenmandat bemüht noch ein Parteiamt behalten. Die Partei wird aktuell von seinem Vertrauten Manuel Bompard gesteuert. Bompard hat für LFI die Express-Verhandlungen zur Bildung der „Neuen Volksfront“ mit Sozialisten, Kommunisten und Grünen organisiert. Dass Macron einen Premierminister Mélenchon oder Bompard ernennen könnte, erscheint aktuell ausgeschlossen – obwohl die LFI-Gruppe mit 74 Abgeordneten den größten Teil des neuen Linksbündnisses stellt. Doch nicht nur der Präsident, auch die anderen Mitglieder des neuen Linksbündnisses lehnen eine Regierung unter linksradikaler Führung ab.
Olivier Faure – der Unauffällige
Auch der 55-jährige Sozialistenchef Olivier Faure sieht sich als Sieger der Parlamentswahlen. Zwar stellen die Sozialisten mit 59 Abgeordneten weiterhin nur die zweitgrößte Gruppe in der Linksallianz, doch Faure sieht das Momentum auf seiner Seite. Während LFI einen Sitz verlor, konnten die Sozialisten deutlich zulegen. Politisch gilt Faure, der seit sechs Jahren an der Spitze der Sozialistischen Partei (PS) steht, als äußerst flexibel. Er hat den Ruf, mit allen Strömungen innerhalb der PS zusammenarbeiten zu können. In den letzten Jahren der Präsidentschaft Hollandes organisierte er als Fraktionsvorsitzender die Mehrheiten in der Nationalversammlung. Die Techniken des Machterhalts sind ihm nicht fremd und Matignon für ihn reizvolles Ziel.
Marine Tondelier – die lachende Dritte?
Auf der politischen Linken ist Marine Tondelier das Gesicht der Verjüngung. Die 37-Jährige, die bei ihren Auftritten stets einen apfelgrünen Blazer trägt, stammt aus Hénin-Beaumont, der politischen Heimat von Marine Le Pen. Die nordfranzösische Kleinstadt wird seit zehn Jahren von einem RN-Bürgermeister regiert.
Im Wahlkampf agierte die Politikerin, die vor eineinhalb Jahren die Führung der französischen Grünen (EELV) übernommen hat, geschickt und eloquent. In den sozialen Netzwerken erreichte eine Szene aus einem morgendlichen Interview mit Wirtschaftsminister Bruno Le Maire im Radiosender France Inter ein Millionenpublikum.
Le Maire versuchte darin, den Rassemblement National und La France Insoumise gegeneinander auszuspielen, um zu erklären, warum er eine Brandmauer gegen die extreme Rechte ablehne. Mit schluchzender Stimme warf Tondelier dem Minister ein „feiges und privilegiertes Verhalten“ vor. Obwohl die Grünen in Frankreich bislang keine große Rolle spielen, könnte Tondelier die lachende Dritte sein im Ringen zwischen Sozialisten und LFI.
Xavier Bertrand – Konservativer am Spielfeldrand
Neben den drei nahezu gleich großen Blöcken im Parlament ziehen auch die konservativen Republikaner wieder in Fraktionsstärke in die Nationalversammlung ein. Die auf kommunaler Ebene seit Jahrzehnten fest im Land verankerte Partei und ihre Verbündeten verfügen über 65 Sitze und könnten dem Präsidentenbündnis Ensemble wichtige Stimmen für eine relative Mehrheit liefern.
Der führende Republikaner Xavier Bertrand, Präsident der Region Hauts-de-France, plädierte in diesem Zusammenhang für eine „nationale Notstandsregierung“ zwischen Les Républicains (LR) und dem Präsidentenlager – unter Führung eines Republikaners. Auch wenn diese Wendung eher unwahrscheinlich erscheint – der 59 Jahre alte Bertrand, der auch schon einmal für den Elysée kandidieren wollte, würde dieses Amt sicher nicht ablehnen.
Gérald Darmanin und Edouard Philippe – aus dem Lager des Präsidenten
Gérald Darmanin wird in den kommenden Wochen die zentrale politische Figur in Frankreich. Der 41 Jahre alte Innenminister ist für die Sicherheit der Olympischen Spiele verantwortlich, die Ende des Monats in Paris starten. Darmanin, der einst von LR zur Präsidentenpartei Ensemble wechselte, zählt zu den politischen Schwergewichten. Er steht für eine klare Law-and-Order-Politik und verfügt über das Machtbewusstsein für das Amt des Premierministers.
Für ihn könnte sprechen, dass der rechtsnationale RN bei den Parlamentswahlen zwar mit Abstand die meisten Stimmen erhielt, letztlich aber durch das Mehrheitswahlrecht ausgebremst wurde. Mit einem Premierminister Darmanin würde Macron signalisieren, dass er die Sorgen der RN-Wähler ernst nimmt.
Edouard Philippe kennt den Alltag im Matignon. Er war von 2017 bis 2020 Premierminister unter Macron. Danach gründete der 54-Jährige seine eigene Partei „Horizons“, die zum Lager des Präsidenten zählt und ging als Bürgermeister von Le Havre in die Provinz. Philippe, der laut Umfrage aktuell beliebteste Politiker im Land, hatte den Präsidenten zuletzt scharf kritisiert und plädiert nun – wie der Republikaner Bertrand – für ein „technisches Abkommen“ zwischen LR und der Präsidentenallianz, um Frankreich für mindestens ein Jahr regieren zu können. Ob Bertrand, Darmanin oder Philippe: Sie alle eint der Wunsch, die Regierungsübernahme der Linken doch noch verhindern zu können.
Viele Konstellationen werden derzeit diskutiert. Am Ende muss der Staatspräsident entscheiden. Macrons Wahl könnte – wieder einmal – überraschend ausfallen und noch länger auf sich warten lassen.